Kurt Bodewig Bundesminister a.D.

Piraterie als Bedrohung der Weltgemeinschaft – Wirtschaftsfaktor der fehlenden Staatlichkeit Somalias

29.09.2009

Bodewig, Kurt (2009): Piraterie als Bedrohung der Weltgemeinschaft – Wirtschaftsfaktor der fehlenden Staatlichkeit Somalias. IMS (September 2009)

Von einem Rückgang der Piraterie in der Region des Horns von Afrika kann leider keine Rede sein. Im Vergleich zur ersten Jahreshälfte des vergangenen Jahres stieg in diesem Jahr die Zahl der geplanten und realisierten Piratenüberfälle auf das Doppelte. Im ersten Halbjahr fanden 240 Piraterieaktivitäten im Golf von Aden und vor der Ostküste Somalias statt, wie das Internationale Schifffahrtsbüro (IMB) mitteilte. Allein bei den 136 Überfällen im zweiten Quartal 2009 wurden 561 Besatzungsmitglieder als Geiseln genommen. Bei zunehmender Brutalität der Kaperungen wurden 19 zum Teil schwer verletzt, sechs sogar getötet. Positiv ist, dass 31 dieser Angriffe durch EUNAVOR, die ATALANTA-Mission der Europäischen Union, durchkreuzt wurden. Dabei konnten über 250 Piraten abgefangen werden.

Die Meerenge am Horn von Afrika ist eine der am meisten befahrenen Passagen der Welt. 4.700 Schiffe haben sich in diesem Jahr registriert, um von einer der 13 Fregatten und Korvetten aus Deutschland, Frankreich, Schweden, Großbritannien, Italien und Spanien Begleitschutz zu erhalten.

Zur Begleitung des World-Food-Programms wurden immerhin 25 Konvois gebildet. Das Ernährungsprogramm soll die Einwohner Somalias, eines vom Bürgerkrieg verwüsteten und in viele Teilstrukturen zerfallenen Landes, mit Lebensmitteln versorgen. Im ersten Halbjahr 2009 wurden über 180.000 Tonnen Lebensmittel zur Versorgung von 1,8 Millionen Somalis durch den Schutz der EUNAVOR-Truppen der Operation ATALANTA gewährleistet. Geradezu zynisch ist, dass vor allem die Schiffe des World-Food-Programms Angriffsziel von Piraten geworden sind - vor allem in der halbautonomen Region Puntland. Für diese Lebensmitteltransporte werden alte, langsame Schiffe verwendet, die für die mit Schnellbooten ausgerüsteten Piraten eine leichte Beute sind. Deshalb werden die Schiffe des World-Food-Pragramms von den EUNAVOR-Verbänden und auch von Task Forces anderer Nationen, etwa den Vereinigten Staaten, China, Indien, Russland und Japan begleitet. Dadurch verschiebt sich der Wirkungskreis der Piraten zunehmend. Da werden Dhaus, die klassischen Fischerboote, als Mutterschiffe verwendet - teilweise entführt, teilweise in Erwartung der zu erwartenden Lösegeldzahlung gemietet.

Die ATALANTA-Mission verfügt über 10 Fregatten. Jedes Schiff kontrolliert im Durchschnitt etwa 320 Quadratkilometer. Ich selbst konnte mir ein Bild davon machen, dass die Aufklärungsflugzeuge eine wirksame Aufgabe übernommen haben. Ihnen gelingt es, verdächtige Boote und Mutterschiffe der Piraten zu identifizieren. Die Weltgemeinschaft hat die Piratenangriffe als Angriffe auf die Lebensadern der Welt verstanden: In kürzester Zeit gelingt es immer wieder, alle operierenden Verbände der unterschiedlichen Task Forces zum schnellstmöglichen Einsatz zu bewegen.

Piraterie hat nichts mit der Seeräuberromantik der Hollywoodfilme der fünfziger Jahre zu tun. Piraterie bedeutet heute ein knallhartes, skrupelloses Geschäft. Die Hintermänner sind heute nicht nur in Somalia zu vermuten, sondern sie befinden sich von Nairobi bis London überall auf der Welt. Eine ganze Kette von aufeinander abgestimmten Aufgabenbereichen hat dazu geführt, dass sich die Piraterie zu einer florierenden Wirtschaft und neuen Form der organisierten Kriminalität entwickelt hat. Neben denjenigen, die die konkrete Entführung vornehmen (und am schlechtesten bezahlt werden) gibt es Übersetzer, Rechtsanwälte, Verhandlungsführer bis hin zu Personen, die sogar die Pressearbeit übernehmen, um den Druck auf die Eigentümer der Schiffe zu erhöhen. Das eingespielte Konzert unterschiedlicher Funktionäre in diesem brutalen Spiel ist gut erkennbar.

Die militärischen Verbände halten sich mit Gewalt zurück, um eine Eskalation zu vermeiden. Meistens gelang es den Einheiten, Piraten vom Hubschrauber oder von schnellen Begleitbooten aus vom Überfall abzubringen. Dennoch hat es Fälle gegeben, bei denen der Einsatz von direkten militärischen Mitteln nicht nur auf Seiten der Seeräuber, sondern auch auf Seiten der betroffenen Geiseln zu Toten geführt hat. Noch heute sind weit über hundert Geiseln in der Gewalt der Piraten, die ohne Skrupel vorgehen. Dies hat zuletzt die Ermordung des Anführers der Entführer auf der „Marathon“ gezeigt, der Opfer der eigenen Geldverteilungsmechanismen wurde.

Trotz dieser bedenklichen Begleitumstände sind die Maßnahmen der Operation ATALANTA und der USA-geführten multinationalen Seestreitkräfte Task Force 150 und Task Force 151 erfolgreich. Die begleiteten Konvois fahren sicher und die koordinierten Maßnahmen auf einer Fläche von über zwei Millionen Quadratkilometern sind erfolgreich. Vor allem die internationale Zusammenarbeit ist gut. Die Kommunikation des europäischen Kommandos in der Zentrale im englischen Northwood, geleitet von Konteradmiral Philip Jones, mit den Headquarters der anderen Verbände funktioniert sehr gut. Die schnelle Reaktion und die gegenseitige Unterstützung vor Ort haben sich bewährt.

Dringend zu vermeiden ist eine Eskalation an Bord der gekaperten Schiffe. Auch die Reeder halten nichts von einer Grundgesetzänderung, die die Bundeswehr zur gewaltsamen Befreiung von Geiseln auf gekaperten Schiffen befähigen soll. Auch die Inanspruchnahme von Angeboten paramilitärischer Sicherheitskonzerne wie etwa “Blackwater“, die im Irak Söldnertruppen unterhalten, wird als Stufe zu einer weiteren Eskalation der Gewalt gewertet. Die Erweiterung von Sicherheitstechnologie, die eine schnelle Kontaktaufnahme zu Begleitschiffen ermöglicht, ist notwendig.

Die Justizminister der EU haben mit Kenia ein Abkommen abgeschlossen, das die Strafverfolgung in den Rechtsprechungen in Nairobi ermöglicht. Dies ist sehr sinnvoll. Die sehr unterschiedliche Rechtslage in den einzelnen beteiligten Staaten macht eine internationale Regelung unabdingbar. Eine mögliche Lösung wäre die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes für Piraterie ähnlich des Internationalen Strafgerichtshofes für Menschenrechte in Den Haag. Gegebenenfalls könnten auch die Aufgaben des Internationalen Seegerichtshofes, mit Sitz in Hamburg um die Aufgaben der strafrechtlichen Pirateriebekämpfung erweitert werden. Für beide Lösungen bedarf es internationaler Vereinbarungen auf UN-Ebene. Angesichts der Bedrohungssituation, die bei einer potenziellen nicht auszuschließenden Verknüpfung mit terroristischen Strukturen die Weltgemeinschaft bedroht, könnte der UN-Sicherheitsrat das Thema baldmöglichst aufgreifen. Da nahezu alle Staaten des UN-Sicherheitsrates an der Pirateriebekämpfung in den unterschiedlichen Kommandos beteiligt sind, halte ich eine solche Lösung schon im Eigeninteresse der Beteiligten für möglich.

Die Versicherer lassen sich die Risiken aus Piraterie teuer bezahlen. Bei einem zu versichernden Risiko von 3 Mio. US-Dollar kostet die Durchquerung des Golfs von Aden mittlerweile 30 000 US-Dollar Versicherungsprämie, so die Schätzung von Versicherungsmaklern. Somit ist die Prämie in einem halben Jahr um das Zehnfache gestiegen.

Durch die Lösegeldzahlungen steigen die Versicherungsprämien. Deshalb entscheiden sich viele Reeder, das Kap der Guten Hoffnung zu umfahren. Das bedeutet einerseits eine längere Reisezeit und ist andererseits mit massiven Einnahmeausfällen am Suez Kanal verbunden. Veränderte Schifffahrtsrouten verändern die Seefahrt strukturell. Da in dieser Region ein großer Teil der Erdöl- und Erdgasförderungen transportiert wird, ist damit auch die Sicherheit der weltweiten Energieversorgung involviert .

Neben den dramatischen Schicksalen der Geiseln und dem Leid der Familien ist hier eine weitere ökonomische Komponente zu erkennen. Die Lösegeldzahlungen steigen. 2008 wurden Lösegelder im zweistelligen Millionendollarbereich gezahlt. In Somalia gibt es neun wetteifernde Piratenbanden, die in Waffen, Boote und Kommunikationseinrichtungen investieren. Ein Pirat mit dem Namen Jassem beschreibt sich als Investor: „Ich habe Mitarbeiter, die jetzt für mich die Arbeit machen.“

Damit sich diese neue Form organisierter Kriminalität nicht weiterentwickelt, muss konsequent gegen Piraten vorgegangen werden. Diese Ökonomie des Schreckens muss spezifisch bekämpft werden. Dazu gehört vor allem, den Weg des Geldes zu verfolgen. Die Übergabe findet in der Regel mit “gebrauchten Scheinen“ auf unkonventionelle Weise statt. Doch die Drahtzieher sitzen in Nairobi oder London. Die Wege des Geldes und der Finanzströme müssen analysiert und sichtbar gemacht werden.

Vor allem muss die sich erneuernde Staatlichkeit in Somalia unterstützt werden, um die Piraterie auch von Land aus bekämpfen zu können. Projekte wie das von Djibouti vorgeschlagene Zentrum zur Ausbildung von Coastguards der ostafrikanischen Staaten haben für mich eine besonders hohe Priorität. Die Investition in die Entwicklung der lokalen und nationalen staatlichen Strukturen sind notwendig und sinnvoll.

Die Industrie- und Schwellenländer müssen materiell dazu beitragen, dass Schiffe wieder eine Zukunft haben, nachdem die somalischen Gewässer von fremden Staaten leer gefischt wurden und der Tsunami 2004 auch die Infrastruktur der Fischer völlig zerstört hat. Jede Investition in die Entwicklung der zivilen Strukturen trägt dazu bei, der organisierten Kriminalität und Korruption den Boden zu entziehen. Internationale Vereinbarungen, die sicherstellen, dass die Küsten Somalias am Horn von Afrika nicht leer gefischt werden und eine Fischereiwirtschaft sich erneut entwickeln kann, sind ebenso zu fördern wie die Entwicklung von Wirtschaftsstrukturen, die den Menschen eine Alternative an Land bieten. Noch wäre die Zeit, mit einem “Marshallplan gegen Piraterie“ solche Strukturen zu entwickeln. Beide Seiten der Medaillen sind erforderlich. Es ist in unserem eigenen Interesse mit Verve daran zu arbeiten.