Kurt Bodewig Bundesminister a.D.

Die deutsche Ratspräsidentschaft 2007: Hohe Erwartungen bei engen Spielräumen

21.03.2007

Sehr geehrte Frau Kommissarin Ferrero-Waldner, Herr Außenminister Store, Frau Stubholt, meine Damen und Herren, Es ist mir einn Ehre hier und heute vor Ihnen sprechen zu dürfen.

Jedes Mitgliedsland der Europäischen Union übernimmt für ein halbes Jahr die Präsidentschaft im Europäischen Rat. Wir sind im ersten Halbjahr 2007 an der Reihe und das nun schon zum 12. Mal seit Bestehen des gemeinschaftlichen Europas. Nach 1994 und 1999 hat das wiedervereinigte Deutschland zum dritten Mal die EU-Präsidentschaft inne.

Deutschland ist der erste Präsidentschaftsstaat, der zusammen mit seinen beiden Nachfolgern, in diesem Fall Portugal und Slowenien, die 18monatige „Triopräsidentschaft“ bildet, die der Politik der EU mehr personelle und fachliche Kontinuität geben soll.

Der Vorsitz in der Europäischen Union ist entgegen mancher Vermutung nicht die Gelegenheit, eigene nationale Interessen besonders gut durchsetzen zu können. Der Ratspräsident ist vielmehr ehrlicher Makler bei Interessensgegensätzen zwischen den Mitgliedstaaten und Moderator innerhalb der EU-Organe. Viele in den vorangegangenen Präsidentschaften angestoßene politische Prozesse müssen übernommen und weiter geführt werden.

Die Erwartungen an den deutschen Vorsitz sind gerade deshalb sehr groß, da sich die EU in einer insgesamt schwierigen Phase befindet.

In den nächstem Wochen: Die grundsätzlichen Probleme, mit denen sich die deutsche Präsidentschaft auseinander setzen muss, bestehen schon länger und sie werden auch nach der deutschen Ratspräsidentschaft nicht vollständig gelöst sein. So sind dies:

  • Die Verfassungskrise
  • Wirtschaftliche und soziale Schwäche (Arbeitslosigkeit, Wachstum, Ungleichheit)
  • Erweiterungsfrage (nächste Beitritte, Aufnahmefähigkeit, Grenzen Europas, die Nachbarschaftspolitik und die Rolle Europas in der Welt.

Diese drei Probleme hängen eng miteinander zusammen: Die wirtschaftliche Schwäche schürt den Unmut in den Kernländern, was jede neue Erweiterung unmöglich macht. Die EU verliert viel von ihrer Ausstrahlung. Dies führte auch zur Ablehnung des Verfassungsvertrages in den Niederlanden und in Frankreich. Die Verfassungskrise schränkt die Handlungsfähigkeit der EU stark an und blockiert so weitsichtige Lösungen für andere Probleme.

Umgekehrt führt auch das vorläufige Scheitern des EU-Verfassungsvertrages dazu, dass die Zustimmung zum europäischen Projekt sinkt. So ist ja auch in Norwegen zuletzt wieder ein wenig die Zustimmung zu einem EU-Beitritt gesunken. Die Mehrheit ist nun wieder gegen einen Beitritt. Auch hier dürfte u.a. das vorläufige Scheitern des Vertrages die Ursache sein.

Jetzt kommt es vor allem auf die Mitarbeit Sarkozys an. In Berlin hält man ihm zugute, dass er nicht das Risiko eines erneuten Referendums über eine Neufassung des Verfassungsextes eingehen möchte.

Ob sich Sarkozy in Merkels Operation „Wir retten möglichst viel von der EU-Verfassung“ wirklich als konstruktiver Partner erweist, muss sich aber noch zeigen. Man darf gespannt sein, wie das deutsch-französische Duo künftig funktioniert. Merkel hat ihre Erfolge in der Europapolitik vor allem der Fähigkeit als stille Vermittlerin zu verdanken. Sarkozy ist zum Präsidenten gewählt worden, gerade weil er das offene Wort schätzt. Da kann es zu Spannungen und Konflikten kommen!

Außerdem fällt die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft in eine Zeit fortschreiten-der Globalisierung, weltweiter Krisenszenarien mit unvermittelt aufkommenden Friedensbedrohungen.

Der internationale Terrorismus erfordert neue Antworten, europäische Truppen stehen im Nahen und Mittleren Osten und im Balkan. Von der EU werden immer mehr Beiträge zur Wahrung des Wohlstandes in einem sozialen Europa und als internationaler Sicherheitsakteur erwartet. Das sind die Fragen, auf die wir heute gemeinsame Antworten finden müssen.

Und ich sage an dieser Stelle ganz klar: Wir müssen europäische Antworten finden. Im lauten Vielklang der globalisierten Welt finden wir Europäer nur Gehör, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Wir können unsere Interessen nur wirksam vertreten, wenn wir gemeinsam handeln!

Wie jede andere Präsidentschaft vor ihr hat auch die deutsche Ratspräsidentschaft die Aufgaben einfach vorgefunden und sich nicht aussuchen können. So sind die Instrumente und Wege zu deren Bewältigung weitgehend vorgezeichnet.

Dennoch möchte ich an dieser Stelle sagen, dass zu jeder Präsidentschaft ein Pflichtprogramm und eine Kür - wie beim Eiskunstlauf - gehören:

Zur Pflicht: Jede Präsidentschaft muss laufende Gesetzesvorhaben und Terminarbeiten erledigen. Wenn die Präsidentschaft ein Programm erarbeitet, kann sie die Reihenfolge ihrer Tätigkeiten festlegen. Auch die Reihenfolge der Bearbeitung von Dossiers kann die Präsidentschaft festlegen. Der halbjährliche Wechsel des Vorsitzes lässt m.E. auch eine „Bilanzpflicht“ entstehen, durch die ein Druck erzeugt wird, der sich dynamisierend auf die Entwicklung von Dossiers auswirkt.

Die Kür einer Präsidentschaft bietet dagegen die Möglichkeit, solche Themen einzubringen, die beim laufenden Arbeitsprogramm der EU-Organe unberücksichtigt bleiben. Dabei ist zu bedenken, dass die Kür oftmals dafür genutzt wird, ministeriale und parteipolitische Interessen zu befriedigen, was sich mit Hilfe von Konferenzen und der Organisation von informellen Ministerräten bewerkstelligen lässt. Allerdings ist der Ratsvorsitz zur loyalen Zusammenarbeit mit der EU und den anderen Mitgliedstaaten verpflichtet. Das erfordert von der Regierung natürlich eine größere Zurückhaltung bei der Verfolgung eigener Interessen, als von den anderen EU-Ratsmitgliedern.

In die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft fiel im März auch der 50. Geburtstag der Europäischen Union.

Die Weitsicht der Gründungsväter der Europäischen Union 1957 lässt sich wohl heute erst richtig ermessen. Vieles, was 1957 wie reine Utopie klang, ist heute in weiten Teilen politische Realität.

Europa ist heute ein Kontinent des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität. Europäischer Einigungsprozess – das hieß – und das heißt – vor allem: friedliches Miteinander. Vor 50 Jahren gab es wohl kaum etwas, was sich die Menschen sehnlicher wünschten. Heute ist es so selbstverständlich geworden, dass sich junge Menschen etwas anderes gar nicht mehr vorstellen können.

Auch zeigen die zurückliegenden Jahre, dass kühne Visionen und ehrgeizige Ziele den europäischen Integrationsprozess trotz aller Mühen und Widerstände immer wieder vorangebracht haben. Die EU gleicht wohl doch dem Fahrrad, das nicht zum Stillstand gebracht werden kann, ohne dass es dabei Gefahr läuft, umzufallen.

Wir sind stolz auf das Errungene. Wir sind uns jedoch auch bewusst, dass die EU nicht beim Erreichten stehen bleiben darf, wenn es die Europäer wieder neu für das europäische Projekt begeistern will.

Europa 1957 – das war auch ein geteilter Kontinent. Heute 50 Jahre später, ist diese Teilung überwunden. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa sind fester Teil unserer Gemeinschaft. Und es war vor allem ihr großer Freiheitswille, der das möglich gemacht hat.

Ich bin mir sicher aus dem Blickwinkel vieler Regionen dieser Welt würde das alles schon ausreichen, um zu sagen: Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte!

Europäische Union: das ist Frieden und ein geeintes Europa. EU, das heißt aber noch mehr, nämlich ein Binnenmarkt für fast 500 Millionen Verbraucher. Das heißt: eine einheitliche Währung in der Eurozone. Das heißt: Reisefreiheit von Lissabon bis Helsinki.

Eigentlich – lassen Sie mich das hier heute so formulieren – besteht der Binnenmarkt aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), sprich aus EU-25 und EFTA-3. Schließlich gibt das Abkommen zwischen EFTA und EU Norwegen als EFTA-Staat Zugang zum freien Markt der EU. Gleichzeitig verpflichtet sich Norwegen, Regulative der EU in seinem Gesetzeswerk zu implementieren EU, das heißt auch: eine gemeinsame Handelspolitik für 27 Mitgliedstaaten. Nur weil wir unsere Kräfte bündeln, können wir auf Augenhöhe mit den USA, China oder Indien verhandeln.

Europäische Union – das heißt, auch wenn es hin und wieder schwer fällt: eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Das heißt: gemeinsames Wirken für Frieden und Entwicklung in der ganzen Welt. Als Union sind wir ein Akteur, der ernst genommen wird auf der internationalen Bühne. Zusammen sind wir Europäer weltweit der größte Geber von Entwicklungshilfe, beim Nahost-Quartett sitzen wir mit am Tisch – als EU. Unser internationaler Gestaltungsspielraum ist größer, wenn wir ihn europäisch nutzen. Deshalb wollen wir ihn ausbauen, und deshalb brauchen wir eine wirklich handlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik!

Nach den Erfahrungen in den Konflikten auf dem Balkan und den unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten zum Irak-Konflikt hat die Europäische Union im Dezember 2003 eine Sicherheitsstrategie für ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/ESVP) entwickelt. Mit diesem gemeinsamen politischen Ansatz, aber auch mit ihren handels- und entwicklungspolitischen Instrumenten, verfügt die Europäische Union schon jetzt über ein erhebliches politisches Gewicht in den internationalen Beziehungen. Auf dieser Basis kann und muss Europa als Friedensmacht zukünftig einen starken Beitrag zur friedlichen Prävention und zur Beilegung von Konflikten weltweit, zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zu multilateraler Rüstungskontrolle und zur Abrüstung, zur allgemeinen Durchsetzung der Menschenrechte sowie zur Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt leisten. Der außenpolitische Handlungsrahmen Europas muss dabei durch einen sehr weit gefassten Begriff von Frieden und Sicherheit abgesteckt werden. Frieden ist mehr als nur die Abwesenheit von Krieg.

Die deutsche Präsidentschaft hat sich dem Ausbau einer ambitionierten und differenzierten Nachbarschaftspolitik (ENP) verschrieben. Im Vordergrund stehen dabei die osteuropäischen Länder, Moldau, Ukraine und Weißrussland sowie die der südkaukasischen Länder Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Der Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft liegt in der östlichen Dimension. Dies hat nicht nur mit den unmittelbaren Anforderungen zu tun. Sondern auch damit, dass Deutschland wegen seiner Lage, seiner Geschichte und seiner jüngeren Politik umfassende und intensive Beziehungen zu Osteuropas unterhält. Die nachfolgende portugiesische Präsidentschaft wird den Fokus wohl eher auf den Mittelmeerraum richten.

Ziel einer effizienten Nachbarschaftspolitik ist es, den Ländern eine Alternative zum Beitritt zu bieten. Um dem Interesse der EU an Stabilität und wirtschaftlich-sozialer Modernisierung und Demokratisierung in Nachbarschaftsländern besser und nachhaltiger gerecht werden zu können, muss die Europäische Nachbarschaftspolitik aber noch konzeptionell verbessert werden. Hier müssen noch Anstrengungen unternommen werden!

Darüber hinaus hat sich die EU auch dazu entschlossen, die Beziehungen der Länder des südlichen Mittelmeerraumes sowie des Nahes Ostens unter dem Dach der ENP zu gestalten. Die ENP ist verbunden mit den drei Hauptinteressen, die die EU im Schwarzmeer-raum verfolgt: Konsolidierung demokratischer Staaten, Sicherheit und Energie-versorgungssicherheit.

Mittlerweile beabsichtigt die EU, ihre Interessen in der Region nicht mehr – wie bisher geschehen – aus Rücksicht auf ihre guten Handelsbeziehungen zu Russland zurückzustellen. Als Ergänzung und Stärkung der bislang bilateral geprägten Konzepte in der Schwarzmeerregion hat die Kommission am 11. April 2007 das multilaterale Konzept der „Schwarzmeersynergie“ vorgestellt. Es knüpft an die sektoralen Programme und Initiativen an. Die Kommission stellt die Beteiligung von Nachbarregionen an den entsprechenden Maßnahmen in Aussicht, „wenn deren Thematik in engem Bezug zu der einen oder anderen dieser Regionen verknüpft“ sei. Ausdrücklich erwähnt wird hierbei der Zusammenhang zwischen der Schwarzmeer-region und Zentralasien.

Ich begrüße es, wenn der Europäische Rat im Juni das Kommissions-Dokument annimmt.

Meine Damen und Herren, ich komme nun zum Schluss meines Vortrages / Beitrages: Schon jetzt – 6 Wochen vor Ablauf Präsidentschaft - lässt sich ein positive Resümee ziehen: Die deutsche Ratspräsidentschaft hat das Tagesgeschäft im Griff, nichts ist schief gelaufen. Zwei große Projekte, die man in der Form nicht erwarten konnte, hat die deutsche Ratspräsidentschaft geschafft: Die Einigung im Klima-Streit und die Formulierung der Berliner Erklärung. Ein großer Brocken liegt noch vor uns: Auf dem Juni-Gipfel muss über die das Projekt Verfassung weiter diskutiert werden.

Der durch die Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden angehaltene Prozess der europäischen Verfassungsgebung wieder in Gang zu setzen, ist noch DIE Hauptaufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft. Unser Ausgangspunkt ist unmissverständlich: Die Verfassung, hinter der zwei Drittel der Mitgliedstaaten stehen, muss in ihrer politischen Substanz erhalten bleiben. Die Verfassung muss aber so verändert werden, dass sie für alle akzeptabel ist. Es wäre ein großer Erfolg, wenn zum Abschluss der deutschen Ratspräsidentschaft Einigkeit über die Orientierung, das Verfahren und den Zeitrahmen für die Wiederaufnahme des Verfassungsprozesses besteht.

Die Ratspräsidentschaft ist immer ein bisschen wie eine Fußball-Europameister-schaft: eine gute Gelegenheit, sein Land, seine Menschen und seine Leistungsfähigkeit zu zeigen. Aber auch ein schöner Anlass, den eigenen Bürgern Europa näher zu bringen. Schon jetzt ist absehbar: Die heimische Presse hat intensiver über Europa berichtet, auch die kleinere Heimatzeitung, die das Thema sonst nicht so oft im Visier hat. Die Politik befasst sich öfter als sonst mit Europa, die Abgeordneten sprechen es in ihren Wahlkreisen und die Parteien vor ihren Mitgliedern häufiger an als üblich. Im Kollegen- und Freundeskreis wird vermutlich öfter darüber diskutiert. Die Ratspräsidentschaft ist nicht nur eine Chance für unser Land, Europa voran zu bringen und einen Schritt weiter in die Zukunft zu führen, sondern Europa den Menschen näher zu bringen, fühlbar und sichtbar zu machen. Wenn beides gelingt, wird die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 eine gute Ratspräsidentschaft gewesen sein!

Ich möchte noch ein paar persönliche Worte an Sie in Norwegen richten: Norwegen ist für uns in der EU ein kooperativer und exzellenter Partner. Wir arbeiten in vielen Bereichen eng zusammen. Norwegen teilt die Sichtweisen und Interessen der EU in vielen Bereichen der internationalen Politik und arbeitet auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik eng mit der EU zusammen. Erst Ende Oktober haben Norwegen und die EU ein Abkommen zur besseren Überwachung und Kontrolle des Fischfangs unterzeichnet.

Was ist mit dem Beitritt Norwegens zur EU werde ich oft gefragt? Das, wofür andere Länder in Europa beten und bitten, dazu hat Norwegen zweimal in Volksabstimmungen Nein gesagt. Ein Nein gegen die Empfehlung des Parlaments und der Regierung. Sie gehören zwar nicht zur EU, sind aber Europäer. Sie sind Teil Europas!

Norwegen ist seit dem Abkommen zwischen EU und EFTA von 1994 daran beteiligt, die schwächer gestellten Regionen in der EU mit zu finanzieren. Diese Regelung wurde mit der Erweiterung kräftig ausgebaut. Norwegen ist mit einem jährlichen Beitrag von ca. 226 Millionen Euro als Nicht-EU Land der neuntgrößte Nettobeitragszahler und pro Kopf der zweitgrößte. Ein weiterer Grund der EU beizutreten, sie sollten nicht nur materiell beteiligt sein, sondern auch bei der Willensbildung der Gemeinschaft!